Prof. Dr. Birgit Eickelmann war überrascht von den rückgängigen Kompetenzergebnissen der deutschen Schüler*innen bei der letzten ICILS-Studie. Was Schulleitungen tun können, um ihre Schulen zukunftsfähig aufzustellen, erklärt sie im Interview.
Die mittleren computer- und informationsbezogenen Kompetenzen der Achtklässlerinnen und Achtklässler sind in den letzten Jahren signifikant zurückgegangen (ICILS-Studie 2023). Hat Sie das überrascht?
Ja, um ganz offen zu sein. Das Ergebnis hat mich in der Deutlichkeit durchaus überrascht. Deutschland hatte ja 2013 zum ersten Mal an der ICIL-Studie, die damals neu war, teilgenommen. Das Kernergebnis war, dass wir in Bezug auf die digitalen Kompetenzen der Schüler*innen nur im Mittelfeld lagen und die Rahmenbedingungen an den Schulen einen deutlichen Verbesserungsbedarf aufwiesen. Dann mit ICILS 2018 zeigte sich, dass wir in den meisten Bereichen noch nicht so viel besser geworden waren, sich aber die Schulleitungen und Lehrkräfte auf den Weg gemacht hatten. Viele der in Deutschland eingeleiteten Maßnahmen, z.B. die 2016er KMK-Strategie ‚Bildung in der digitalen Welt’, hatten noch nicht greifen können und auch die DigitalPakt-Verhandlungen waren erst 2019 abgeschlossen worden. Daher bestand tatsächlich die große Hoffnung, dass wir mit der 2023er Studie zahlreiche Entwicklungen auch dokumentieren konnten. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren viel getan, wir konnten insbesondere die Lehr*innen in Deutschland zu einem großen Anteil einbinden. Aber wir erreichen bisher etwa nur ein Viertel der Schüler*innen mit unseren Maßnahmen. Mehr als 40 Prozent scheinen leider nicht von den Entwicklungen zu profitieren und erreichen nur digitale Kompetenzen, die auf den beiden untersten Kompetenzstufen liegen. Anschaulich können diese Schüler*innen im Grunde nur wischen und klicken.
Wie können Schulleitungen die computer- und informationsbezogenen Kompetenzen wirklich verbessern? Wenn Sie Schulleitungen einen persönlichen Rat mit auf den Weg geben könnten – welcher wäre das?
Was wir ja zunächst einmal auf dem Papier erreicht haben, ist, dass die digitalen Kompetenzen Eingang in die Lehrpläne gefunden haben und in der Regel fachlich angebunden sind. Das, also die Förderung der digitalen Kompetenzen, dann in die Tat umzusetzen, ist dann Aufgabe der Schulen. Hier geht es für Schulleitungen um die Steuerung der entsprechenden Prozesse, die sie – neben allen anderen Aufgaben – gut strategisch, zeitlich und konzeptionell einplanen müssen. Die Anforderungsbreite ist hier recht groß. Wir wissen, dass diejenigen Schulen und Schulleitungen erfolgreich im Kontext von Digitalisierungsprozessen sind, die sich im Sinne des Digital Leaderships weiterqualifizieren, die zudem die Aufgaben nicht delegieren, sondern selbst z.B. Kenntnisse darüber haben, wie sich der Unterricht, das Lernen und Idealfall auch die Prüfungsformate zukunftsorientiert verändern. Neben der ständigen Erweiterung der eigenen Kompetenzen geht es um die Steuerung der schulischen Transformationsprozesse im Bereich der Unterrichts- und Personalentwicklung, aber vor allem auch der schulischen Organisationsentwicklung – z.B. zu den pädagogischen Zielen und Grundsätzen der eigenen Schule – sowie um die Kooperations- und Technologieentwicklung. Dabei hat die ICILS-2023-Studie jedoch gezeigt, dass Schulleitungen in Deutschland im Bereich der Technologie- und Personalentwicklung, im internationalen Vergleich zu anderen Staaten, oft die Hände gebunden sind. Neben einem spezifischen Engagement der Schulleitungen benötigen diese auch in Deutschland mehr Handlungsspielräume.
Welche Erkenntnisse aus der Forschung könnten Schulleitungen in Deutschland dabei helfen, ihre Schulen gezielt und nachhaltig digital zu transformieren?
Das Erste, das diesbezüglich zu nennen ist, ist, dass es aus meiner Sicht im Kern nicht um eine digitale, technisch orientierte Transformation von Schule geht und gehen darf, sondern um eine zukunftsorientierte Transformation von Schule, die gesellschaftliche Veränderungen aufgreift.
Dabei sollten Schulsysteme und Schulen nicht nur reagieren. Sie sind vielmehr so zu steuern, dass sie Schulen und die junge Generation befähigen, unsere Gesellschaft mitzugestalten. Dazu gehört viel mehr als nur das Digitale. Dieses nimmt, auch vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Kontext von KI, derzeit dennoch einen großen Raum ein und wird auch in den nächsten Jahren eine zentrale Entwicklungsaufgabe für Schulen bleiben.
Der zweite Punkt, der mir einfällt, sind natürlich die Modelle und Forschungsergebnisse im Detail. Nehmen wir z.B. das für die schulische Arbeit sehr anwendbare Modell von Sarah Dexter aus dem Jahr 2018: Demnach ist es wichtig, dass Schulleitungen Richtungen vorgeben (setting directions), ein gemeinsames Verständnis in Schulen über Formen und Ziele des Lehrens und Lernens herstellen, dabei alle schulischen Akteure einbeziehen und auch Maßnahmen und Verfahren nutzen, um die gewünschten schulischen Entwicklungen im Blick zu behalten und nachzusteuern. Lehrkräfte und Schüler*innen einbeziehen liegt dabei auf der Hand. Darüber hinaus geht es auch um Eltern, Schulträger und in der beruflichen Bildung um die Betriebe. Vieles davon machen wir sicherlich schon.
Eine Schwachstelle ist oft jedoch das Monitoring in den Schulen. Was passiert im Unterricht? Verändert sich das Lernen tatsächlich, sind Schüler*innen aktiv und ihren Bedürfnissen und Interessen entsprechend eingebunden? Oder wird nur ein fertiges Tafelbild über Beamer und Whiteboard vorne präsentiert? Das ist nicht einfach, aber entscheidend.
Digitalisierung verändert nicht nur den Unterricht, sondern die gesamte Lernkultur und das Miteinander an Schulen. Stimmen Sie zu?
Dass sich die Lernkultur in einer Schule verändert, ist kein Automatismus. Hierzu braucht es vertiefte Einblicke, Haltungen und Konzepte. Dass sich das Miteinander in der Schule verändert, hat zwei Seiten. Einmal können sich neue Formen des Miteinanders, gemeinsamen Lernens und neue, digitale Formen des Kooperierens ergeben, die Lernprozesse unterstützen. Jedoch gibt es auch neue, unerwünschte Nebenwirkungen des digitalen Miteinanders: Oberflächlichkeiten, gesunkene Hemmschwellen und Cybermobbing und Formen des Miteinanders, die für uns Erwachsene nicht real erscheinen, aber für die Kinder und Jugendlichen sehr real sind. Die Gestaltung des tiefgreifenden Wandels verläuft nicht unverbunden von den alltäglichen Herausforderungen, sondern ist Teil davon, in vielen Fällen kann sie sogar die Lösung sein.
Wie können Schulleitungen diesen tiefgreifenden Wandel aktiv gestalten, ohne dabei die alltäglichen Herausforderungen aus den Augen zu verlieren?
Ich verstehe, was Sie meinen: Die (digitale) Transformation von Schule ist einerseits ein langfristiger Prozess, der gleichzeitig durch eine hohe Dynamik geprägt ist, in der jede Schule ihren Weg finden muss. Andererseits gibt es den Schulalltag, der nicht auf Stopp und auch nicht auf Reset gestellt werden kann. Die tagesaktuellen Aufgaben lassen oft wenig Platz für tiefgreifende Innovationsprozesse. Letztlich geht es darum, Kapazitäten und Ressourcen zu schaffen und einzuplanen, eine ‚Capacity for Change‘ wie wir in der Schulentwicklungsforschung sagen würden.
Das erfordert auch, überholte Abläufe zu überwinden und agile Führung zu realisieren, die im Idealfall jedoch die Beteiligten nicht überfordert. Oft bekomme ich in meiner Forschung, die Rückmeldung, dass nicht genügend Zeit vorhanden sei. Darüber müssten wir auch einmal nachdenken: Wie viel (Arbeits-)Zeit haben Schulleitungen und Lehrkräfte, damit sie im und für das System bestehen können? Wie wollen wir diese Ressource vor dem Hintergrund immer dynamischer Entwicklungspunkte verwenden? Woran können wir sparen, was kann vielleicht gestrichen werden? Wenn wir es zulassen, könnte KI in der Arbeitsorganisation eine gute Unterstützung sein. Aber das System muss sich auch Gedanken machen, wie Schulleitung nicht nur wieder attraktiver wird, sondern überhaupt machbar sein kann in einer Welt der gestiegenen Komplexität und Ansprüche.
Erfolgreiche digitale Schulentwicklung hängt stark von der Führungspersönlichkeit der Schulleitung ab. Welche Kompetenzen und Haltungen sind aus Ihrer Sicht für Schulleitungen unverzichtbar?
Zunächst einmal stimme ich Ihnen sehr zu. Die Führungspersönlichkeit ist ausschlaggebend. Wir sprechen davon, dass es nicht reicht, wenn Schulleitungen ihre Schulen gut verwalten. Vielmehr ist echtes Leadership gefragt und hier eine Balance zwischen Stärke und Rücknahme. Stärke in Entscheidungen und Klarheit. Zurücknahme in Bezug auf die Vorbewertung neuer Entwicklungen. Dazu ist die Etablierung einer guten Fehlerkultur notwendig, wenn digitalisierungsbezogene Innovationsprozesse auf den Weg gebracht werden. Hierzu gehört Vertrauen in die Expertise des Kollegiums bei gleichzeitiger Verantwortungsübertragung im Sinne des Einforderns, an Entwicklungen teilzuhaben und diese mitzugestalten. Das ist aus meiner Sicht für Schulleitungen eine Haltungs- mehr noch als eine Kompetenzfrage.
Manchmal hilft ein Blick über den Tellerrand, um neue Wege zu entdecken und Inspiration zu finden. Können Sie konkrete Beispiele nennen, die Schulleitungen inspirieren könnten?
Mit der ICILS-Studie erfassen wir ja auch immer die Schulleitungsperspektive und der internationale Vergleich liefert uns hier eine Einordnung und auch einen Blick über den Tellerrand. Das aus meiner Sicht hier für Deutschland wichtigste Ergebnis ist, dass weniger als 30 Prozent der Schulleitungen in Deutschland der Ansicht sind, dass digitale Medien einen Beitrag dazu leisten, das Lernen und die fachlichen Lernergebnisse zu verbessern. Dieser Anteil ist in anderen Staaten deutlich höher. Das Ergebnis zeigt, dass wir in Bezug auf die digitale Transformation noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten haben. Dies erscheint mir vor den derzeit so rasanten KI-Entwicklungen besonders wichtig. Gelingt es uns, die technologische Transformation – trotz aller Herausforderungen und Tücken – in eine pädagogische und lernbezogene zu wandeln? Das wird aus meiner Sicht die entscheidende Frage sein und bleiben.
Die Fragen stellte Nina Braun
Die Interviewpartnerin
Als Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn und Leiterin des nationalen Forschungszentrums der ICILS-Studie (International Computer and Information Literacy Study) ist Prof. Dr. Birgit Eickelmann eine führende Stimme in der digitalen Transformation von Schulen. In ihrem Vortrag auf dem DSLK gibt sie Schulleitungen praxisorientierte Impulse zur digitalen Schulentwicklung, zur Veränderung von Lehr- und Lernprozessen sowie zur erfolgreichen Implementierung digitaler Strategien. Ihre Expertise basiert auf fundierter Forschung und ihrer langjährigen Beratung für nationale und internationale Bildungseinrichtungen, sodass ihre Empfehlungen sowohl für die Praxis als auch für die langfristige digitale Schulentwicklung von großer Bedeutung sind.
Ihr Vortrag auf dem DSLK 2025:
Die digitale Transformation aus der Perspektive der Schulleitungen
Freitag, 28. November 2025
16:45–17:45 Uhr