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“Sie müssen nicht alles schaffen”

Wer mit schwierigen Schülerinnen und Schülern zurechtkommen will, braucht Konsequenzen, Regeln und Grenzen, sagt DSLK-Referent und Konfliktpädagoge Raphael Kirsch.

Steigen wir mit dem folgenden Szenario ein: Eine Schulleitung kommt zu Ihnen und sagt: Wir müssen unsere innovativen neuen Methoden wieder abbrechen. Die Schülerschaft ist zu schwierig. Was antworten Sie darauf als Experte für pädagogische Konflikte?

Wenn es sich um Methoden handelt, die wissenschaftlich fundiert sind und die an anderen Schulen in anderen Kontexten mit ähnlicher Klientel, mit ähnlichen Herausforderungen und Ressourcen funktionieren, dann kann das Problem nicht die Schülerschaft sein.

Das heißt, ich würde antworten, dass es sich lohnt, durchzuhalten. Gerade dann, wenn die Schülerschaft herausfordernd ist, gerade dann, wenn Neuerungen und Innovationen anstehen. Dann muss man darauf schauen, warum passt das denn gerade nicht? Was können wir adaptieren?

Oder haben wir es vielleicht versäumt, das, was an anderen Stellen gut funktioniert, auf unseren Rahmen anzupassen? Fehlen uns beispielsweise finanzielle oder personelle Ressourcen? Und: Haben wir auch die mitgenommen, die dagegen sind?

Also, es scheitert dann eher an Rahmenbedingungen, nicht an der Schülerschaft. 

Ich erlebe, dass es in einer Schule einen kleinen Kern von ganz ganz motivierten Menschen gibt, die Lust haben, Pädagogik zu verändern. Die wollen das große Schiff endlich mal so ein bisschen nach vorne bringen. Dann gibt es aber auch die, die immer noch rückwärts rudern. Das sind die Menschen, die sagen, das haben wir doch schon immer so gemacht. und dann gibt es eine ganz große Breite Masse an Menschen, die einfach nur im Boot sitzen und froh sind, dabei zu sein.

Veränderungen sind einfach immer anstrengend. Deshalb muss man schauen: Was brauchen die anderen, um unsere Ideen mitzugehen? Und wie können wir Sorgen und Angst vor Veränderungen nehmen? Das wäre mein Anliegen, bevor ich auf die Schülerschaft schaue.

Apropos “Das haben wir schon immer so gemacht”. Ihr Vortrag heißt “Ich zähle jetzt bis 3″. Wie bewerten Sie diese sehr klassische Droh-Formel und was sind Alternativen?

Also erst mal ordne ich diese Sätze als vollkommen alltagsnah ein, denn auch mir passiert das regelmäßig, dass ich auf solche Sätze zurückgreife. Ich bin nicht eine Sekunde lang besser als jeder andere. Trotzdem ist es wichtig, dass wir daran arbeiten. Warum?

Ich komme aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Da lernst du relativ schnell als Mitarbeitender: Wenn du drohst, hast du verloren. In dem Moment, wo du drohst, zeigst du deinem Gegenüber, dass du machtlos bist.

Das Schlimmste, was ja auch in der Schule passieren kann, ist ein Schüler, der nach einer Drohung sagt, ‘das ist mir doch egal’.

Genau. Sprechen wir darüber, dass herausforderndes Verhaltensweisen den Rahmen sprengen. Welche Strategien helfen Schulleitungen dabei, dass sie Klarheit gewinnen und handlungsfähig bleiben?

Was tun wir, wenn Kinder und Jugendliche den Rahmen sprengen? Meine erste Frage ist dann, was ist denn der Rahmen? Bei der Frage wird es bei manchen schon dünn. Also erst einmal sollte man seinen Rahmen definieren: Das heißt, bis wohin bin ich handlungsfähig? Und ab wann muss die Schulleitung zu den Lehrkräften sagen, ‘das musst du nicht mehr händeln’.

Einige Beispiele: Ein Schüler verhaut regelmäßig auf dem Schulhof die Zweitklässler. Ein Kind erpresst andere oder bedroht Lehrkräfte. Das sind Straftaten. Das ist Aufgabe der Polizei.


Diese Schritte klar zu benennen und sie als Grenzen zu sehen, dafür muss man konsequent und mutig sein.

Dazu gehört eine bestimmte Kultur in der Schule, dass man über Krisen sprechen kann und sie dann auch konstruktiv bearbeitet. Wie kann man so eine Kultur schaffen?

Indem Schulleitungen offen sagen, dass Lehrkräfte nicht für alles eine Lösung haben müssen. Es gibt da draußen einen unglaublich großen pädagogischen Ehrgeiz, den ich jedem Menschen erst mal sehr hoch anrechne. Dieser Ehrgeiz, immer alles händeln zu wollen, nicht scheitern zu dürfen, Schüler doch noch irgendwie zu erreichen. Schräg beäugt wird dann, wenn es jemanden gibt, den man nicht knacken kann, wo alles in die Waagschale geworfen wird und der Schüler trotzdem eine 6 nach Hause bringt. Oder trotzdem gewalttätig ist. Ich möchte den Arbeitsauftrag der Lehrkraft nicht schmälern, aber der Job als Lehrkraft ist ein Erziehungs- und ein Bildungsauftrag. Da gibt es diesen Punkt, an dem sie nichts mehr tun können. Es wird viel zu selten kommuniziert, dass sie nicht alles schaffen müssen.

Da kann sicherlich auch eine Portion Humor hilfreich sein. Inwiefern raten Sie Lehrkräften dazu, um schwierige Situationen zu entschärfen?

Humor ist für mich essentiell. Wenn du Humor leben kannst, ist das einer der Schlüssel für Deeskalation. Du verwendest Humor, aber bitte nur, wenn du zwei Bedingungen erfüllst. Bedingung Nummer 1: Du kennst das Kind aus deiner Klasse, bei dem du weißt, dich kriege ich mit Humor. Bedingung Nummer 2: Du musst ein humorvoller Mensch sein. Wenn du das nicht bist, lass das, weil sonst ist das Cringe und Schülerinnen und Schüler merken das sofort.

Konflikte sind wie Tanzpartner – manchmal treten sie einem auf die Füße. Welche Konflikte haben dazu geführt, dass Sie sich zum Experten dafür entwickelt haben? 

Das war mein Zivildienst bzw. noch ein bisschen weiter vorher. Ich bin ja staatlich anerkannter Erzieher. Ich habe in meinem Zivildienst in der geschlossenen Kinder- und Jugendpsychiatrie gemerkt, dass es unfassbar viele Dinge gibt, die ich nicht gelernt habe in meiner Ausbildung. Was ich nicht gelernt habe, sind beispielsweise Deeskalation, psychische Störungsbilder, Rhetorik, Konfliktmanagement.

In diesem Zivildienst musste ich innerhalb kürzester Zeit lernen, wie ich mit Menschen am Limit umgehe. Wie ich auf mich selber aufpasse, was meine eigenen Trigger sind, wie ich wirke. Das musst du dir ja in keinem anderen Kontext der Welt gefallen lassen. Aber in Psychiatrie oder in all den herausfordernden pädagogischen Berufen kriegst du das um die Ohren gehauen. Wenn du dich damit nicht auseinandersetzt, dann bist du auf verlorenem Posten.

Also, um die Frage zu beantworten: Was hat mich zum Experten gemacht? Es ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie, denn da gibt es Dinge, die in anderen pädagogischen Kontexten fehlen, die aber dort seit Jahren gut gelebt und praktiziert werden.
Meine Frau ist Grundschullehrerin und in der Anfangszeit, in der wir uns kennengelernt haben, konnte ich ihr hilfreiche Tipps und Tricks geben, die ich in der Psychiatrie umsetzen würde, die sie mir aber von ihrem Alltag geschildert hat. Das hat gut funktioniert und dann hat ihre Schulleitung vor 12 Jahren gesagt: Warum klappt das bei Ihnen so gut, Frau Kirsch? Sie hat gesagt, ihr Mann habe Ideen. Und dann war ich vor 12 Jahren in dieser Schule und habe in einer Schulkonferenz Rede und Antwort gestanden. Ich habe nur gesagt, was ich tun würde und daraus ist eine Fragerunde aus allen Schulen in der Region geworden. So ist mein Beratungsunternehmen entstanden.

In der Weiterbildung von Lehrkräften sprechen Sie von der Balance zwischen Konsequenzen und Regeln. Was heißt das im Detail?

Es braucht in der Schule drei Instanzen. Es braucht Regeln, die klar kommuniziert sind. Es braucht pädagogisch wertvolle Konsequenzen. Es braucht klare Grenzen.

Grenzen braucht es vor allem dann, wenn ich von einem Erziehungsauftrag hin zu einem Schutz- und Ordnungsauftrag switche. Wenn ich dafür sorgen muss, dass alle anderen gerade nicht Teil des Konflikts werden.

Wenn Sie die Schule der Zukunft entwerfen dürften, welche drei Dinge würden Sie sofort einführen?

Es ist gar nicht so kompliziert, wie sich das viele vorstellen. Ich glaube, die Schule der Zukunft muss nicht mehr machen, sondern weniger. Wenn man das verstanden hat, dann ist die Transformation dahinter überhaupt kein großer Eisberg.

Auf meiner Liste stehen

  1. Hausaufgaben abschaffen und stattdessen in der Lernzeit Beziehungsarbeit machen.
  2. Noten weglassen. Weil Feedback sinnvoller ist, als Noten und Noten nichts über Intelligenz, Leistungsbereitschaft und Motivation aussagen.

und jetzt muss ich mich noch für eine Dritte entscheiden. Obwohl mir zehn Dinge im Kopf sind. Ich entscheide mich für

  3. 45 Stunden-Takt abschaffen.

Letzte Frage: Beziehungsarbeit ist das A und O in der Schule. Was ist Ihre heimliche Notfall-Liste?

Wenn die Aufgabe wäre, mit einer Klasse, die ich nicht kenne, zu arbeiten, dann wäre mein Ansatz, mich vorne hinzustellen und den Schülerinnen und Schülern Rede und Antwort zu stehen. Warum?

Ich vertrete die Haltung, dass Beziehungsarbeit etwas ist, was auf Freiwilligkeit beruht. Du kannst niemandem eine Beziehung aufzwingen. Wenn ich Menschen kennenlernen will, mache ich ihnen daher ein Beziehungsangebot. Das heißt, ich mache den ersten Schritt. Ich gehe in Vorleistung. Ich verteile hier Vorschusslorbeeren bis zum geht nicht mehr. Und wenn die Menschen dann die Entscheidung treffen, dass sie das möchten, dann würde ich den Morgenkreis machen oder einen Steckbrief-Zettel verteilen.

Was viele Lehrkräfte aber machen, ist das Umgekehrte. Ihr erzählt mir jetzt mal alles von euch, weil, wenn ich was über euch weiß, dann kann ich sagen: Hey, wie war dein Fußballspiel letzte Woche? Aber das wirkt schnell gezwungen.

 

Die Fragen stellte Nina Braun

Der Interviewpartner

Raphael Kirsch

Krisen- und Konfliktpädagoge, Deeskalationstrainer und systemischer Coach

Beziehungsarbeit statt Hausaufgaben – Konfliktpädagoge Raphael Kirsch plädiert für ein Umdenken für mehr Lernqualität.

Sein Vortrag auf dem DSLK 2025:

Einfach Krisenfest

Mit langjähriger Erfahrung aus Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jugendämtern und Bildungseinrichtungen vermittelt Raphael Kirsch praxisnah, wie pädagogische Fachkräfte in akuten Krisen souverän und handlungsfähig bleiben. Als Abschlussredner gibt er Impulse, wie man auch in belastenden Situationen Haltung bewahrt, Konflikte deeskaliert und Kinder sicher begleitet – klar, nahbar und aus tiefem Erfahrungswissen heraus.

Ich zähl jetzt bis 3

Samstag, 29. November 2025

08:30– 09:30 Uhr